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Bildungssituation

Klassifikation

 

Die Gehörlosengemeinschaft wird von Krausneker (2006, S. 28-29) hinsichtlich ihrer Bildung, beruflichen Stellung und Verankerung in der Gebärdendenkultur in vier Segmente unterteilt: Zunächst eine hoch gebildete Elite, die äußerst kompetent in der ÖGS sowie der deutschen Schriftsprache ist, häufig über gute Englischkenntnisse verfügt und sich oft auch noch weitere Fremdsprachenkenntnisse angeeignet hat. In das nächste Segment der ÖGS-Gemeinschaft werden jene eingeteilt, die ökonomisch selbständig sind, die Angelegenheiten der Gebärdensprachgemeinschaft verfolgen, jedoch Unsicherheiten um Umgang mit der hörenden Mehrheit aufweisen, die unter anderem aus einer Anstrengung im Umgang mit schriftlicher Information resultieren. Am dritten Segment seien die Auswirkungen einer Bildungspolitik erkennbar, die vor allem auf Lautsprachlichkeit abzielt. Als Resultate werden unter anderem mangelndes Bewusstsein über die Zugehörigkeit zur ÖGS-Gemeinschaft, schlechte Kenntnisse der deutschen Schriftsprache und höhere Arbeitslosigkeit genannt. Die letzte Gruppe bilden Gehörlose, die isoliert unter Hörenden leben, kaum Kontakt zu ÖGS oder anderen Gehörlosen haben bzw. hatten und unter den vielfältigen Auswirkungen mangelnden Austauschs leiden.


Die oben beschriebene Segmentierung und die Tatsache, dass Gehörlose durchschnittlich schlechter gebildet sind als Hörende, ist vor allem auf das mangelnde Verständnis der lautsprachlichen Mehrheit für die Phänomene Gehörlosigkeit bzw. Schwerhörigkeit sowie gebärdete Sprache und die daraus resultierende Schlechterstellung im Bildungswesen zurückzuführen.

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Zahlen und Fakten

 

Durchschnittlich verfügen gehörlose Kinder bei Schuleintritt über ein Vokabular von etwa 250/500 Wörtern, wohingegen gleichaltrige hörende Kinder 3000-19 000 Wörter beherrschen. 14-16-jährige gehörlose SchülerInnen haben einen Wortschatz von ca. 2000 Wörtern.   Weiters ist österreichischen Statistiken zu entnehmen, dass 59% der befragten Gehörlosen angeben, die Schriftsprache nicht bzw. nicht ausreichend erlernt zu haben.       

                                  

In der hinzugezogenen Literatur wird explizit darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf Schul- und Studienabschlüsse gehörloser Menschen katastrophale Zahle zu verzeichnen sind. Als Erklärung werden das limitierte Bildungsangebot mit ÖGS als Unterrichtssprache sowie Diskriminierung im Bildungswesen angeführt.

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Nach wie vor problematisch?

 

Trotz der Novellierung der Schulgesetze im Jahre 1993 liegen nach wie vor starke Diskriminierungen gegenüber gehörloser oder hörbeeinträchtigter Menschen in der schulischen sowie beruflichen Laufbahn vor. Das allgemeine Bildungsangebot unter Berücksichtigung beziehungsweise Einbeziehung von ÖGS als (Teil-) Unterrichtssprache ist sehr limitiert und leider ist das Lernumfeld auch in einigen Integrationsklassen nicht auf die Bedürfnisse betroffener Kinder und Jugendlicher angepasst. Offiziell werden auch keinerlei entsprechende zertifizierte Qualifikationen wie etwa Grundkompetenzen der ÖGS von in Bildungseinrichtungen tätigen PädagogInnen seitens des Bildungsministeriums verlangt.

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Das Erlernen der Lautsprache wird nämlich nach wie vor als Hauptziel in der Bildung und Erziehung Gehörloser betrachtet, um dadurch vermeintlich eine Integration in die hörende Gesellschaft zu erleichtern. In Österreich wurde zwar vom Bildungsministerium erkannt, dass der ÖGS die Wege als Unterrichtssprache zu ebnen sind, jedoch ist diese Erkenntnis nicht in den Bildungsgesetzen verankert.

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Im Pflichtschulbereich hat im Sonderschulen-Lehrplan seit September 2008 erstmals die ÖGS Einzug gefunden. Allerdings zeigt sich ein deutlicher Mangel an Lehrpersonal mit fundierten Gebärdensprach-Kenntnissen. Bilingualer Unterricht steht somit nicht automatisch an der Tagesordnung. Auch in Regelschulen können Gehörlose und Hörbeeinträchtigte nicht optimal unterrichtet werden, da es aus rechtlicher Sicht keine Verpflichtungen gibt, welche den Erwerb basaler Kompetenzen der ÖGS für Lehrpersonen vorschreiben. Es ist jedoch zu erwähnen, dass prinzipiell die Möglichkeit geboten wird, als unterrichtende Person einen Kurs im Umfang von 75 Stunden ohne Leistungsüberprüfung zu besuchen beziehungsweise abzuschließen.

Auch im Hinblick auf den Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung und Berufsausbildung verweist der ÖGLB auf enorme Defizite, da fehlende gesetzliche Grundlagen den Berufseinstieg sowie die Aufnahme bestimmter Studienrichtungen erschweren. Besonders genormte Aufnahmekriterien als Grundvoraussetzung für den Studienantritt wird hierbei oftmals in den Fokus öffentlicher Kritik gerückt.

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Des Weiteren werden in den meisten Studien- und Berufsgesetzen/-verordnungen von BewerberInnen „Sprech- und Stimmleistung“ sowie körperliche und geistige beziehungsweise gesundheitliche Eignung gefordert. Hervorzuheben ist hierbei, dass unter dem Begriff „Sprache“ nur Lautsprachen verstanden werden.

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Der ÖGLB bezog Anfang des Jahres 2012 Stellung zum Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Behinderung 2012-2020 und empfiehlt mitunter folgende Maßnahmen:

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  • Die Gewährleistung des Rechts auf einen barrierefreien und diskriminierungsfreien Zugang zu solch einem bilingualen Unterrichtsangebot für gehörlose, hochgradig schwerhörige sowie anderwärtig hörbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche.

  • Die Errichtung einer Bundesschule in allen Landeshauptstäten, die den Schwerpunkt auf bilingualen Unterricht (ÖGS und Deutsch) legt. Solch eine Bundesschule sollte mit bereits bestehenden Schulen in der jeweiligen Landeshauptstadt und im Bundesland kooperieren, um eine flexible Ressourcenverteilung zu gewährleisten und eine freie Wahl des Schulstandortes zu sichern.

  • Ein bundesweites Angebot des Schulfaches „Österreichische Gebärdensprache“ als eine Fremdsprache sowie das Fach „Gehörlosenkultur“. Diese Fächer sollten, wenn möglich, von sogenannten „native signers“ (gehörloses Fachpersonal) unterrichtet werden.

  • Eine bundesweite Aus- und Fortbildung für LehrerInnen und LehrassistentInnen (egal ob hörend oder gehörlos/ hörbeeinträchtigt) in ÖGS und in fremdsprachigen Gebärdensprachen. Außerdem sind behördlich anerkannte Zulassungsprüfungen zur Feststellung der Sprachkompetenz erforderlich.

  • Die Möglichkeit einer Ausbildung von gehörlosen und hörenden DolmetscherInnen für ÖGS an allen Universitäten und Fachhochschulen in Österreich

 

 

Der Österreichische Gehörlosenbund veranstaltete im Juli 2013 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums einen großen Bildungskongress in Wien, um Raum für Diskussionen rund um das Thema der inklusiven Bildung (bilingualer Unterricht) zu bieten. Die aktuelle Bildungssituation Gehörloser im deutschsprachigen Raum wurde besprochen. Neben einer Reihe von Vorträgen waren auch einige Workshops Teil des Angebots. Auch Präsentationen von diversen Projekten im Zusammenhang mit den Chancen eines inklusiven Umfeldes waren im Programm enthalten.

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